Ist Ihnen aufgefallen, wie sich das Leben alle 20 Jahre grundlegend verändert? Plus-minus natürlich. Uns Augenoptikerinnen und Augenoptikern ist das natürlich bewusst, denn wir spielen an vielen dieser Stationen eine wichtige Rolle. Als Fachgeschäft begleiten Sie Ihre Kundinnen und Kunden oft ein Leben lang. Dabei sind zeitgemässe, gut durchdachte Strategien entscheidender als Produktstrategien, die mit der Kundschaft mitwachsen. Haben Sie Lust auf einen Austausch von Gedanken und Erfahrungen in diesem Kontext?
Die Demografie
Nichts ändert sich so schnell wie die Zukunft. Dennoch lassen sich mit wissenschaftlichen Methoden Trend berechnen und Entwicklungen in eine «imaginäre Zukunft» vorhersagen. Anders als beim Blick in die Kristallkugel sind Szenarien auch mit datenbasierter Evidenz nie sicher, denn der Wandel verläuft nie linear statt. Das bedeutet, dass sich verschiedene Lebensbereiche in unterschiedlicher Geschwindigkeit in unvorhersehbare Richtungen entwickeln werden.
Ganz genau wie bei einer Wettervorhersage kann man in den Daten von heute ein gewisses «Momentum» entdecken, das man als Grundlage für eine Prognose nutzen kann. Das Bundesamt für Statistik hat Hinweise auf demografische Entwicklungen ausgewertet und Szenarien für zukünftige Entwicklungen veröffentlicht. Im Referenzszenario aus dem Jahr 2020 rechnet das BFS für das Jahr 2050 mit einer Schweiz mit ca. 10.44 Mio. Einwohnern (im Vergleich zu etwas über 8.96 Mio. im Jahr 2023).
Die 10-Millionen-Marke werden wir in 15 Jahren erreicht haben. Das bedeutet, dass in der Schweiz über 1 Mio. mehr Menschen ihr Zuhause haben werden. Dieses Wachstum wird aus einer Kombination von Faktoren entstehen: Neben der Zuwanderung ist der wichtigste Faktor eine bedeutende Zunahme von Personen in den höheren Altersklassen: Denn wir werden immer älter!
Eine interessante Schlüsselzahl im Bericht ist der Anteil der über 65-Jährigen: Er lag 2020 bei 18.9% und wird bis 2050 auf 25.6% ansteigen. Am stärksten zeigt sich das Wachstum bei Senior*innen über 80 – ihre Zahl wird sich auf 1.11 Mio. mehr als verdoppeln.
Die Konsequenz für die Augenoptik
Als Fachpersonen in der Augenoptik kennen wir diverse Megatrends. Einer davon ist die Zunahme von digitalem Sehstress («Digital Eye Strain» oder auch «Computer Vision Syndrome»). Neben der demografischen Entwicklung ist dies natürlich auch dem Zeitgeist geschuldet, denn immer mehr Tätigkeiten verlagern sich sowohl bei der Arbeit als auch in der Freizeit auf den Bildschirm.
Beobachtet man das Wachstum in den höheren Altersklassen, fällt aber auf: Presbyopie ist nicht nur ein natürlicher Prozess, sondern ein wichtiger Megatrend. Denn bis 2050 werden über 52% der Menschen in der Schweiz 45 Jahre oder älter und damit von Presbyopie betroffen sein.
Ja, es gibt Studien und Stimmen, die behaupten, dass wir früher presbyop werden. Und nein, der digitale Sehstress hat per Definition nichts mit Presbyopie zu tun. Aber dadurch, dass wir unseren Kund*innen bei beiden Phänomenen mit ähnlichen Lösungen helfen können, wird eine klare Abgrenzung zunehmend schwieriger.
Wenn die Augen schneller zu altern scheinen als der Mensch, hat sich der Begriff «Pre-Presbyopie» dafür etabliert. Basierend auf Beobachtungen und einem grossen Erfahrungsschatz entwickelt jedes Fachgeschäft eine Strategie, wie den Kund*innen in der unscharf begrenzten Altersklasse von 30 bis 45 Jahren am besten geholfen werden kann.
Das ist eine grosse Herausforderung! Denn nirgends sonst ist eine optimale Sehlösung so diffus, nimmt aber doch so grossen Einfluss auf die spätere Versorgung. Fantasie und Einfühlungsvermögen sind hier wichtiger als allgemeingültige «Faustregeln». Dennoch möchten wir hier eine kleine Orientierungshilfe und einen Vorschlag für eine vorausschauende Strategie geben, mit der man Presbyope glücklich machen kann.
Die erste Brille vergisst man nie
Der erste Besuch beim Optiker ist ein besonderes Erlebnis: Was kommt auf mich zu? Wie werde ich meine Welt mit «neuen Augen» sehen und wie werde ich mit meiner Brille aussehen? Egal, in welchem Alter man seine erste Sehhilfe bekommt: Sie, als Fachperson, legen damit den Grundstein und sind massgeblich an den Entscheidungen für alle folgenden Brillen mitverantwortlich. Wie schön es doch ist, wenn die erste Erfahrung mit einer Sehhilfe positiv ist und Freude macht. Laden Sie Kund*innen aller Altersstufen dazu ein, die verschiedenen Möglichkeiten zu entdecken und unterstützen Sie damit wichtige Kompetenzen im Umgang mit Sehhilfen.
Brillen, Kontaktlinsen, refraktive Chirurgie etc. Setzen Sie sich mit der Kundenperspektive auseinander und gehen Sie ergebnisoffen ins Beratungsgespräch. Fördern Sie den Erfahrungsaustausch in Ihrem Team, wenn es um Erstträger geht und sensibilisieren Sie sich für eine kundengerechte Sprache: Denn nur eine Frage, deren Antwort verstanden wird, ist beantwortet. Und das ist so viel anspruchsvoller als es klingt.
Korrigierte Augen sind entspannte Augen
Die Liste der Symptome von digitalem Sehstress ist lang und einige davon liessen sich durch gute Gewohnheiten, wie etwa einer gesunden Seh-Hygiene am Arbeitsplatz (siehe unten), vermeiden. Besonders aber bei intensiver Arbeit in der Nähe ist eine gezielte Unterstützung der Augen nicht nur sinnvoll, sondern auch sehr empfohlen. Dies gilt umso mehr, wenn es sich um Bildschirmarbeitsplätze handelt, denn künstliches Licht stresst unsere Sehorgane zusätzlich.
Ob in der Schule, im Studium, im Job oder in der Freizeit (Social Media, Gaming, Content Creation, …): Wer viel Zeit vor dem Bildschirm verbringt, sollte auch eine schwache Fehlsichtigkeit korrigieren und sich über Blaulichtfilter informieren. So kann eine Brille eine wichtige Basis sein, um entspannter und mit gesunden Augen durchs Leben zu gehen.
Ab den 30ern kann man auch über ein Einstärkenglas mit Akkommodationsunterstützung nachdenken. Hier liegt das Geheimnis klar in der Zurückhaltung bei der Wahl der Addition: Wählen Sie diese je nach Alter und Fehlsichtigkeit – bei Myopie eher schwächer, bei Hyperopie eher stärker aber immer so schwach wie möglich aus (maximal 0.80 dpt. bei über 40-jährigen hyperopen Träger*innen).
Übrigens: Ein Gleitsichtglas mit tiefer Addition ist in den meisten Fällen eine bessere Idee als ein Einstärkenglas mit hoher Nahunterstützung. Das zeigt die Erfahrung. Ausserdem ist es sinnvoll, früh mit Gleitsichtgläsern zu beginnen. Dazu etwas weiter unten mehr.
Der entscheidende Zeitpunkt
C’est la vie! Früher oder später kommt zum digitalen Sehstress eine spürbare, natürliche Nahschwäche dazu. Dann ist es Zeit für eine vernünftige Presbyopie-Lösung. Über die Jahre lernen Sie Ihre Kund*innen kennen und fühlen bei der Refraktion, wann die Zeit reif ist.
Zu diesem Zeitpunkt denken viele zum ersten Mal über einen Besuch im Optikfachgeschäft nach. Im Alltag und in der Freizeit mag alles noch gut funktionieren aber die Arbeit am Computer wird immer anstrengender. Oft ist eine Gleitsichtbrille die erste Empfehlung. Und obwohl sie viele Probleme löst, stellt sie Brillenträger*innen auch vor neue: Am Computer, wo die Beschwerden hauptsächlich auftreten, sind Gleitsichtgläser schwach. Wäre es da nicht elegant, eine Computerbrille zu empfehlen? In der Regel folgt die Gleitsichtbrille dann ganz automatisch.
Übrigens: Je früher man damit beginnt, Gleitsichtgläser zu tragen, desto einfacher macht man sich die Angewöhnung. In der Regel ist die Angewöhnungsphase an die erste Gleitsichtbrille unproblematisch. Besonders, wenn der Einstieg früh und damit mit einer tiefen Addition geschieht. Der nächste kritische Zeitpunkt ist die zweite Gleitsichtbrille: Die Duan’sche Kurve ist wie eine Rutschbahn, die zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr besonders steil ist. Während dieser sehr aktiven Lebensjahre (Familie, Sport, Arbeit, Hobby, Reisen, …) legen wir Brillenträger*innen ans Herz, sich ihre Gleitsichtgläser möglichst regelmässig erneuern zu lassen. Als Optometrist*in haben Sie ein gutes Gefühl für diese Intervalle. Und als Glashersteller wissen wir, dass eine Erhöhung der Addition in 0.25-dpt-Schritten den positivsten Verlauf zeigt.
Entspannt Sehen am Bildschirmarbeitsplatz
Nutzen Sie die bekannte «20-20-20»-Regel, um die Leistungsfähigkeit Ihrer Augen zu fördern. Machen Sie alle 20 Minuten eine kurze Pause und schauen Sie 20 Sekunden lang in die Ferne, idealerweise aus dem Fenster. Alle 1-2 Stunden sollten Sie eine mehrminütige Pause einlegen und sich etwas bewegen.
Ein gut ausgestatteter Arbeitsplatz ist entscheidend. Verwenden Sie einen hochwertigen Bildschirm und sorgen Sie für eine angemessene Beleuchtung. Achten Sie ausserdem auf eine ergonomisch korrekt eingerichtete Sitz- oder Stehpult-Einstellung.
In manchen, besonders klimatisierten Büroräumen ist eine Brille besser geeignet als Kontaktlinsen. Tragen Sie bei Pre-Presbyopie eine Brille, die auch leichte Fehlsichtigkeiten korrigiert. Bei Presbyopie sollte die Brille speziell an den Bildschirmarbeitsplatz angepasst sein.
Für lange Arbeitsstunden am Computer empfehlen wir eine personalisierte Arbeitsbrille. Progressivgläser sind nicht geeignet und können im Extremfall zu Sehstress und Haltungsproblemen führen.
Erfolgsstrategien für glückliche Presbyope
Die Auseinandersetzung mit Presbyopie als Megatrend ist eine Herausforderung für die Zukunft und wichtig für jede Fachperson. Für Optometrist*innen liegt die Challenge in der Wahl der richtigen Kombination von Sehlösungen. Augenoptiker*innen im Verkauf können ihre Kunst weiterentwickeln und bei jedem Beratungsgespräch bereits an die nächste Brille denken. Vieles, was wir dabei lernen, kommt nicht nur jüngeren Altersklassen zugute, sondern erleichtert auch den Einstieg in eine glückliche Presbyopie. Mit Garantie!
Wir ermutigen Fachgeschäfte, innovativ zu sein und sich von starren, produktzentrierten «Sehkonzepten» zu verabschieden. Arbeiten Sie stattdessen als Team an einer vorausschauenden Strategie, die Sie einzigartig macht und die Sie langfristig und gemeinsam mit Ihren Kund*innen verfolgen. Tauschen Sie sich regelmässig aus. Halten Sie Beobachtungen fest und studieren Sie die Ergebnisse offen und mit Interesse. Bleiben Sie neugierig und seien Sie mutig – aber orientieren Sie sich dabei konsequent an Ihrem eigenen «Nordstern».
In den kommenden Jahren kommt viel Arbeit auf uns zu.
Entdecken Sie Ihre Chancen und bereiten Sie sich vor.
Und zum Schluss: Bei aller Liebe zu Brillengläsern und Kontaktlinsen sind es nicht die Produkte, die Ihre Kund*innen glücklich machen. Sondern dass Sie ihnen dabei geholfen haben, die Welt wieder etwas besser zu sehen.